Bilanz nach 36 x TLG

Education has for its object the formation of character.

[Herbert Spenser, Social Statics]

Das klingt wie das Resümee nach 36 Abenteuerreisen in unerforschtes Neuland und vielleicht war es das ja auch. 36 Jahre an einer Schule, das entspricht vier vollen Schülergenerationen. Meine ersten Abiturientinnen haben mittlerweile das fünfzigste Lebensjahr überschritten, ihre Kinder waren längst am TLG. Kolleginnen und Kollegen, die an der Schule waren, als ich meinen Dienst antrat, sind seit langem im Ruhestand oder bereits verstorben. Aber das ist nichts besonderes, das ist vielmehr der ganz natürliche Lauf der Dinge. Was nicht ganz so natürlich ist, ist diese lange Verweildauer an einer Schule.

Warum hält man es so lange an einer Schule aus? Ist es der Wunsch nach Kontinuität, die Abneigung vor Veränderungen oder bringt das Vertrautsein mit den Gegebenheiten einer Schule nicht auch Vorteile für beide Seiten oder ist es nur ein Zufall? Es spielen wohl alle diese Faktoren eine bestimmte Rolle. Und die Aufgaben an einer Schule ändern sich ja auch beständig; sie ändern sich, weil keine Schülergeneration der anderen gleicht, weil sich die offizielle Schulpolitik nach politischen Zeitströmungen richtet, weil Schulleiter unterschiedliche  Zielsetzungen verfolgen, weil sich die Schülerpopulation ändert usw., usw..

So wurde während meiner Schulzeit am TLG aus dem Neusprachlichen Gymnasium ein Neusprachliches und Sozialwissenschaftliches Gymnasium und schließlich kam noch der Fußballzweig dazu. Das reine Mädchen-Gymnasium nahm nach heftigem Sträuben so mancher älterer Kollegin Buben auf. Die Befürchtung, dass damit das Ende aller vernünftigen Erziehungsarbeit am TLG angesagt sei, hat sich natürlich nicht erfüllt. Viele Entwicklungen gehen jedoch eigenartige Wege; haben wir in den 60 er Jahren für die Koedukation gekämpft, so kämpfen heute emanzipierte weibliche Lehrkräfte für die Trennung der Geschlechter in den Naturwissenschaften. Damit werden vielleicht die Leistungen der Mädchen in den Naturwissenschaften verbessert, ob das jedoch insgesamt ein bildungspolitischer Fortschritt ist, mag dahingestellt bleiben.

Aber warum wird man überhaupt Lehrer am Gymnasium? Zunächst, weil man bestimmte Fächer studieren und das erworbene Wissen weitergeben will, weil man Fehler, die an einem selbst in der Schule begangen wurden, vermeiden will, weil man gerne mit jungen Menschen arbeitet, weil man glaubt, dass diese jungen Menschen die eigenen Vorlieben teilen. Dass dies häufig nicht stimmt, stellt sich oft erst später heraus. Aber sehr oft ist es auch eine Frage der eigenen Überzeugungskraft, inwieweit man junge Menschen für gewisse Dinge begeistern kann. Zunächst hängt das von der Altersstufe ab. Kinder vor der Pubertät sind stark von der Persönlichkeit des Lehrers abhängig; wenn es der Lehrer versteht, dann begeistern sie sich für jedes Fach. Nach der Pubertät und in der Zeit der Adoleszenz ändert sich dies aber grundlegend. Dann suchen Jugendliche oft den Konflikt und die Konfrontation, aber auch das gehört zum notwendigen Prozess des Erwachsenwerdens.

Diese Überlegungen sind jedoch viel zu unumstritten, um darüber hinwegzutäuschen, dass wir uns derzeit in einer grundlegenden Krise der Erziehung und Bildung befinden. Natürlich sind Bildungskrisen immer wieder beliebte Profilierungsthemen für ehrgeizige Bildungswissenschaftler und Politiker, aber leider gehen die vorgeschlagenen Lösungsmodelle häufig am eigentlichen Thema vorbei, weil oft schon die Analysen der Probleme falsch oder unehrlich sind. Das Ergebnis ist dann, dass pädagogische Institutionen, Einrichtungen der Bildungsforschung, Unternehmensberatungen, die den Schüler als Produkt behandeln, und mittlerweile auch jede Instanz unserer Gesellschaft, von der Frau des Bundeskanzlers bis zur Polizeigewerkschaft – jeder war ja schließlich einmal SchülerIn und kann mitreden -  heftige Erschütterungen und blinden Aktionismus im Bildungswesen auslösen, die den SchülerInnen und den einzelnen LehrerInnen bei der Bewältigung ihrer Aufgaben nicht helfen, sondern letztendlich nur schaden.

Lösungen werden wie weiße Kaninchen aus dem Hut gezaubert, freilich handelt es sich dabei meistens um Alte Hüte.

Beliebtes Thema ist die Verkürzung der gymnasialen Ausbildungszeit um ein Jahr – die Jugendlichen werden dem Erwerbsleben zu lange entzogen -  gleichzeitig propagiert man eine Ganztagesschule, weil unsere Kinder mehr Unterricht brauchen („auf Dauer schlauer“). Beliebt ist auch das Herumschustern an den Lehrplänen: Grundlegendes geschieht nicht, da der Egoismus der einzelnen Fächer viel zu groß ist. Gekürzt wird dort, wo es rechnerisch möglich, aber nicht sinnvoll ist. Wir bejammern den Verlust der Sprach- und Sprechkultur und beschneiden dabei den Sprachunterricht auf der Mittelstufe, sowohl in Deutsch als auch in den Fremdsprachen. Die Anforderungen in der Grundschule werden beständig gemindert – Kenner sprechen mittlerweile von der Spaß- und Kuschelpädagogik, das Profil der gymnasialen Unterstufe wird steiler gestaltet, eine Absprache und Anpassung findet nicht statt. Darunter leiden Lehrer aller Schularten, die ernsthaft am Fortkommen der ihnen anvertrauten Kinder interessiert sind. Die kreativen Fächer und der Sport, die den Jugendlichen die Möglichkeit der Rekreation einräumen, werden zum „Steinbruch“ für andere Fächer. Die Schule muss und kann alles leisten, von der Verkehrserziehung über die religiöse und ethische Erziehung, die Sexualerziehung, die Drogenberatung, die Genforschung, die Stochastik, das Elisabethanische Theater, die moderne deutsche Literatur bis hin zum vertrauten Umgang mit dem Aktienrecht und zur Ersten Hilfe. Kann die Schule aber dieses Sammelsurium an Aufgaben nicht mehr bewältigen, dann sind die Medien, die sich häufig zum moralischen Gewissen der Gesellschaft ernennen, empört und schreien nach sofortiger Korrektur.

Bereitwillig treten nun Bildungsforschungsinstitute und andere pädagogische Institutionen auf den Plan; die Mitarbeiter dieser Einrichtungen zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie seit vielen Jahren kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen haben oder dass sie als wissenschaftliche Legitimation eine Klasse nebenher führen, um so ihren Forschungsauftrag zu erfüllen. Oft finden in diesen Einrichtungen auch Pädagogen Asyl, die im Klassenzimmer gescheitert sind. Als Lösung aller Probleme werden dann zunächst Reformen gefordert. Eine gründliche Analyse, die vorhergehen müsste erübrigt sich.

Zum größten Teil beschränken sich diese Reformen auf den methodischen Bereich, neue Unterrichtsformen werden entwickelt. Der Frontalunterricht wird als Wurzel allen Übels erkannt und zum Schulfeind Nr. 1 erklärt. (Anwärter auf das Lehramt an Grundschulen, die in einer Lehrprobe mehr als drei Minuten lehrerzentrierten Unterricht erteilen, werden in ihrer Beurteilung herabgesetzt.). Abkürzungen, die an das Wörterbuch des Unmenschen erinnern, überschwemmen den pädagogischen Markt, der lauteste Marktschreier setzt sich durch, nicht der kundigste. Wir reden von EVA (eigenverantwortliches Arbeiten), FA (Freiarbeit), HOU (handlungsorientierter Unterricht), LdL (Lernen durch lehren), LL (Lernen lernen), LPI (Leadership Practise Inventory), LZ (Lernzirkel), MM (Materialienmigration), MSL (materialgestütztes Lernen im Lernlabor), ÜZ (Übungszirkel), usw., usw., die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen. Manchmal wirkt das blinde und auch hilflose Vertrauen auf die Allheilkraft dieser Methoden schon fast rührend.

Natürlich gibt es auch ernsthafte Untersuchungen und Lösungsvorschläge der gegenwärtigen Krise. So setzt sich Franz E. Weinert vom Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in einem Artikel „Die fünf Irrtümer der Schulreformer. Welche Lehrer, welchen Unterricht braucht das Land?“  in „Psychologie heute“, 1999, mit einer Reihe von Problemen auseinander und er bietet auch vernünftige Lösungsmodelle an. Wenn diese Überlegungen aber nicht politisch konform sind, nicht in die Ideologien der progressiven Pädagogen passen – und das gilt für die Bildungspolitiker jeder Couleur – werden sie einfach negiert. Dies können wir uns aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr lange leisten.

Das Hauptproblem, dass die Bildungskrise, die Krise der Schule, vor allem eine Krise unserer Gesellschaft ist, wird nur am Rande wahrgenommen und weil Lösungsmodelle dafür zu kompliziert und zu kostspielig sind, werden sie erst gar nicht in Erwägung gezogen. Man kuriert nur einige Symptome, die Ursachen der Krankheit werden verdrängt. Viel lieber spricht man von der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, Medienkompetenz und Lernstrategien, eine Reihe dieser Begriffe stammen übrigens aus der aufklärerisch, positivistischen Pädagogik des 19.Jahrhunderts; konkrete Kenntnisse, die SchülerInnen ansammeln, ausbauen, ordnen und ständig verfügbar haben sollten, um sie zur Lösung  unserer überaus komplizierten Probleme einzusetzen, geraten immer mehr ins Hintertreffen. Die groteske Situation einer immerwährenden Diskussion ohne konkreten Inhalt wird erzeugt. Dies erinnert fast schon an die Ausweglosigkeit von Figuren aus Sartres oder Becketts Dramen. Wissenschaftliche Erkenntnisse – wie z.B. dass die kompetente „direkte Instruktion“ immer noch am schnellsten und nachhaltigsten den Kenntnisstand der SchülerInnen verbessert – werden nicht diskutiert, wie es wissenschaftliches Arbeiten erfordert, sondern einfach nicht beachtet, weil sie nicht ins ideologische Konzept passen.

Die Erziehungs- und Bildungskrise findet jedoch nicht nur in der Schule statt, sondern vor allem im gesellschaftlichen Umfeld der Kinder. In München wird gegenwärtig etwa jedes vierte Kind von einem alleinstehenden Elternteil erzogen. Häufig sind dies alleinstehende Mütter, die bei dieser schwierigen Aufgabe von den Vätern im Stich gelassen werden. Die Folge sind unter anderem finanzielle Probleme, die jedoch noch am ehesten gelöst werden können. Es gibt eine Reihe von staatlichen, kommunalen, kirchlichen und anderen Einrichtungen, die versuchen, im finanziellen Bereich zu helfen; von einer vornehmlich materialistisch eingestellten Gesellschaft ist dies auch nicht anders zu erwarten. Die anderen Defizite, die für die Kinder jedoch viel schwerwiegender sind, werden nicht aufgefangen. Gerade diesen Kindern fehlt häufig der permanente Ansprechpartner, für sie ist es schwer, das Gefühl der Geborgenheit in einer intakten Familie zu erleben. Wer einmal einen hilflosen, weinenden 12-Jährigen erlebt hat, der, weil er in der Schulaufgabe versagt hat, den Trost von Vater oder Mutter bräuchte, der versteht, wovon hier die Rede ist. Wie sollen aber die erschöpfte Mutter oder der gestresste Vater am Abend nach der täglichen Schlacht am Arbeitsplatz dieses Problem lösen. Sie werden kaum ein geduldiger, einfühlsamer Ansprechpartner für dieses Kind sein können, wie sehr sie auch darunter leiden mögen. Wer soll aber dann diese wichtige Aufgabe übernehmen, ständige verständnisvolle, immer verfügbare Kontaktperson für das heranwachsende Kind zu sein? Die Großeltern, Klassenkameraden, ErzieherInnen, LehrerInnen? Immer häufiger wird die Erfüllung dieser Aufgabe von der Schule gefordert. Die geforderte Einführung der Ganztagesschule hängt sicher damit zusammen, dass viele Mitbürger glauben, damit alle Probleme im familiären Bereich lösen zu können. Immer mehr wird die Schule als Hauptlebensraum dieser Kinder ausgewiesen. In Wirklichkeit können aber die Schule oder sonstige pädagogische Einrichtungen, wie z.B. Tagesheime, vor allem bei der derzeitigen personellen und finanziellen Ausstattung diese Aufgaben nicht übernehmen. Sie können kein nachhaltiger Ersatz für die affektiven Bindungen der Familie sein. Die Elternhäuser können diese Aufgaben aus unterschiedlichsten Gründen jedoch auch nicht erfüllen, die Kinder bleiben dabei auf der Strecke.

Vor allem alleinerziehende Eltern geraten in einem Umfeld, das im Grunde familien- und kinderfeindlich ist, immer mehr unter Druck. Der Terror der Konsumgesellschaft, die sich in erster Linie für finanziell potente Singles interessiert, bringt Alleinerziehende oft in unüberwindliche Schwierigkeiten. Ein trauriges Beispiel ist das Fremdenverkehrsamt der Landeshauptstadt München, das sich mehr auf kinderlose Einzelreisende und Paare (dinks = double income no kids) konzentriert, als auf Paare mit Kindern, die nicht so viel Geld ausgeben können, da sie in der Regel ein niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen haben.

Welche Lösungsmodelle sind für die anstehenden Probleme denkbar? Zuallererst sollten die Mütter in jungen Familien und alleinerziehende Mütter und Väter unterstützt werden, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Gerade junge Frauen, die ein nicht mehr wegzudenkender Faktor unseres Wirtschaftslebens sind, die oft eine lange und hochqualifizierte Ausbildung haben, brauchen mehr finanzielle Überbrückungshilfe und vor allem Arbeitsplatzgarantien. Die Erziehungsaufgabe sollte endlich in ihrer Wichtigkeit erkannt werden, das soziale Prestige dieser Frauen, die unendlich viel für die Gesellschaft leisten, muss verbessert werden, der junge Vater, der ein Babyjahr nimmt, darf nicht mehr belächelt werden. Es kann nicht sein, dass eine mittelmäßige, schlechtbezahlte Beschäftigung im Wertekatalog unserer Gesellschaft ein höheres Sozialprestige besitzt, als die Erziehung der eigenen Kinder und es kann auch nicht sein, dass wir die Erziehung unserer Kinder immer häufiger öffentlichen Einrichtungen überlassen und unsere Elternrechte dabei aufgeben.

Eine Gesellschaft, die nur den rücksichtslos Erfolgreichen schätzt, zerstört ihr eigenes Fundament, da sie die Schwächsten, das Potenzial ihrer Zukunft, die Kinder vergisst. H.G. Wells prophetische Worte drängen sich hier auf:

Human history becomes more and more a race between education and catastrophe.

[H.G.Wells, The Outline of History]

Wir sollten uns alle auf einfache Werte rückbesinnen, wie Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Fürsorge, Toleranz, gegenseitige Zuwendung, miteinander und nicht gegeneinander, sorgfältigerer Umgang mit unserer Umwelt und Übernahme von Verantwortung, vor allem für die eigenen Kinder.

Erst dann wird sich eine Verbesserung im Erziehungs- und Bildungsbereich ergeben und erst dann wird sich auch in einer kinderfreundlichen Umwelt unsere volkswirtschaftliche Situation verbessern. Sollten wir dies jedoch nicht schaffen, so gehen wir einer Epoche von rücksichtslosem Egoismus und Sozial-Darwinismus entgegen, unsere Umwelt wird kälter und unser Zusammenleben schwieriger werden. Die Schule und die in ihr beschäftigten Lehrkräfte werden für die Kinder sicher nicht lückenlos die diversen Aufgaben der Eltern übernehmen können.

All diese Überlegungen mögen am Ende eines Berufslebens sehr pessimistisch und enttäuscht klingen, sie sollten aber eigentlich nur die Sorge um die Zukunft unserer Kinder zum Ausdruck bringen.

Diese Kinder haben sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte in ihren Bedürfnissen, Wünschen und Verhaltensweisen gar nicht so sehr geändert, nur ihr Umfeld ist ein völlig anderes geworden. Was W. Shakespeare in seinem Monolog über die  sieben Lebensalter des Menschen über das Schulkind sagt, stimmt immer noch:

         ... And then the whining schoolboy with his satchel

         And shining morning face, creeping like snail

         Unwillingly to school.

                                                        [W. Shakespeare, As You Like It, ii, 7]

Wer sich ernsthaft mit Kindern und jungen Menschen befasst, wer ihnen Verständnis und Einfühlungsvermögen entgegenbringen kann, der wird für seine Mühen immer noch reich entschädigt. Gerne denke ich an Sitzungen mit meinen Kollegiaten zurück, in denen wir uns mit einem literarischen Problem beschäftigten und dann in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zu ganz neuen überraschenden Ergebnissen gelangten. Oft machte die Arbeit im Klassenzimmer Spaß und die Befriedigung nach 45 Minuten war groß, wenn ein Schüler der 6. Klasse ernsthaft und voll Bedauern sagte, schade, dass die Stunde schon vorbei ist. Der Beruf des Lehrers, der heutzutage sicher kein sehr hohes Sozialprestige innehat, benötigt auch in der Zukunft junge Menschen, die gerne schwierige erzieherische Aufgaben übernehmen und sich mit ihrer ganzen Person einbringen. All denjenigen, die sich darauf einlassen, wünsche ich, dass sie am Ende ihres Berufslebens wie ich sagen können, wenn ich noch einmal die Wahl hätte, so würde ich diesen Beruf wieder ergreifen.

Hans Jörg Prebeck

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